Das Piemont ist eine altehrwürdige Weingegend, in der viele große und namhafte Weingüter große und namhafte Weine produzieren. Bei all der Tradition kann es für kleine und vor allem neue Weingüter ganz schön schwer sein, sich einen Platz am Markt zu ergattern. Das sieben Hektar kleine Weingut der Schwestern Monica und Daniela Tibaldi erfrischt nicht nur mit modernen, filigranen Weinen, sondern auch mit einem freundlichen und kein bisschen prätentiösen Auftreten. Bis die beiden 2014 ein "richtiges" Weingut aus dem Familienbesitz machten, baute die Familie Tibaldi Trauben nur zum Nebenerwerb an. Man kann es sich schon denken: Ganz einfach hatten die Schwestern es nicht im streng konservativen Norditalien. "Am Anfang", erzählt Daniela, "wurden wir nicht ernst genommen. Unser Großvater nahm in den ersten beiden Jahrgängen einen Teil der Trauben, um seinen eigenen Wein zu machen, weil er nicht glaubte, dass wir guten Wein machen würden. Als er dann nach ein paar Monaten die Weine probierte, wollte er seinen eigenen nicht mehr trinken". Natürlich brachten die Schwestern von Beginn an Expertise mit. Monica studierte Weinbau und Önologie in Asti und Madrid, Daniela brachte mit einem Wirtschaftsstudium in Turin und Alba das unternehmerische Know-how mit.
Das Weingut liegt im Roero, dem Bereich nördlich der Verbindungsstraße zwischen Alba und Bra. Der Urgroßvater der Schwestern kaufte um 1900 einen gemischten Satz, begann aber nach und nach seine Lieblingsrebe Favorita zu pflanzen, die auch heute noch eine wichtige Rolle neben dem Roero-Klassiker Arneis spielt. Daniela erklärt: "Arneis ist eine neutrale Rebsorte mit sehr zurückhaltenden floralen und Mandelaromen, die Favorita ist 'semi-aromatisch', mit vor allem exotischen Aromen zunächst nach Banane, dann mit der Zeit mehr in Richtung Ananas". Während der Arneis bei zu langer Lagerung plötzlich an Säure und somit seine Frische verliere, entwickle sich die Favorita über die Jahre weiter und wandle sich von einem frischen Trinkwein mit exotischer Frucht zu einem ernsthafteren Terroir-Anzeiger. Die lokale Spielart des Vermentino ist im Piemont inzwischen jedoch seltener geworden. Die Schwestern bauen sie weiterhin an und keltern aus ihr Weine, die spürbar frischer und eleganter sind und viel mehr Trinkfluss haben als die fettere, alkoholisch-würzige Version in Ligurien oder noch weiter südlich. Leider seien die Erträge im Vergleich zur Arneis so gering, dass es sich für viele Winzer betriebswirtschaftlich nicht lohne, Favorita zu pflanzen. Überhaupt werden bei Tibaldis nur die klassischen piemonteser Rebsorten angebaut, nichts exotisches oder internationales. 65% der Rebbestände sind mit den beiden weißen Sorten bestockt. Inzwischen ist das Weingut biologisch zertifiziert und auch im Keller wird Jahrgang für Jahrgang weniger invasiv gearbeitet. Alle Entwicklungen entstehen im sorgfältig durchdachten Konsens: Meistens ist es Daniela, die in langen Diskussionen für mehr Mut und Experimentierfreude plädiert, während Monica häufig die Position der Vernunft vertritt.
So auch, als Daniela vor einigen Jahren dafür eintrat, auf spontane Gärung zu setzen. Monica gab zunächst zu bedenken, ob darunter nicht die Reintönigkeit oder gar das Ziel des durchgegorenen, trockenen Weines gefährdet werden könnte. Nach vielen Diskussionen einigten die Schwestern sich darauf, zunächst nur den Roero Arneis Bricco delle Passere spontan zu vergären. Nachdem das gut funktionerte, wurde bei mehr und mehr Weinen auf Reinzuchthefen verzichtet. Seit 2019 sind nun alle Weine spontan vergoren. Das verleiht den Weinen spürbar Schmelz und Tiefe, wobei das herausstechende Merkmal der Kollektion eine saftig-trinkige Stilistik ist, die sich durchs Sortiment zieht. Alle Weine sind zwar an der Primärfrucht orientiert, wirken aber keineswegs einfach, kurzlebig oder plump sondern sind bei allem Trinkfluss vielschichtig.
Wir beginnen unsere Verkostung mit dem Metodo Classico Roero Arneis DOCG Ritastè 2015, also einem Schaumwein aus traditioneller Flaschengärung. Die Arneis-Trauben wachsen auf dem Weinberg Bricco delle Passere gleich über dem Weingut auf kalkigem Sand-Lehm-Boden in Nordwest-Exposition, die dem Grundwein Säure und somit Frische mitgibt. Ganze 40 Monate verbringt der Schaumwein auf der Hefe in der Flasche, ehe degorgiert wird. Eine Dosage findet nicht statt, das ganze ist also brut nature - also knochentrocken. Das Ergebnis ist schlank und frisch. Aromatisch zurückhaltend, ein bisschen Heu, etwas Limette und Grapefruit. Ich freu mich immer, wenn ein Schaumwein es schafft, seine Rebsorte rüberzubringen. Das hier ist ganz klar und deutlich Arneis.
Es folgen drei weitere Arneis, diesmal als Stillweine. Zunächst der traditionelle Roero Arneis 2019. Die Trauben kommen von den drei Weinbergen Bricco delle Passere (siehe oben), Mormore, wo die Reben in Südexposition auf Sandböden wachsen und aus Santa Vittoria, wo südexponierte kalkige Lehmböden vor allem für Kraft im Wein stehen. Nach der Lese wird direkt gepresst, spontan im Stahltank vergoren und nach sechs Monaten geht's auch schon auf die Flasche. So einfach kann es manchmal sein. Das Produkt ist im Vergleich zu den meisten Arneis, die wir probieren durften, deutlich dichter und aussagekräftiger. Die Frucht ist da, vor allem aber ist es der Schmelz, der uns gefällt und der diesen "einfachen" Einstiegs-Arneis besonders macht. Das hat eine nicht zu kräftige, aber stabile Struktur, eine schöne Säure, dazu ein bisschen weiße Blüten, Pfirsich, Zitrus. Guter Arneis!
Dann zweimal der Arneis Bricco delle Passere, einmal von 2018 und einmal als Fassprobe von 2019. Wie der Schaumwein stammen die Weine von der oben erwähnten Lage, wo sie etwas langsamer reifen, das heißt bei weniger Zucker (also Alkohol) mehr Aromen und Frische mitbringen. Beim 2019er war es Monica, die etwas neues ausprobieren wollte und ihre Schwester überzeugte, eine Kaltmazeration vorzunehmen. Es wurde also eingemaischt und der auf fünf grad heruntergekühlte Saft verbrachte vier Tage auf den Schalen. Dadurch ist der Wein noch einmal deutlich strukturierter, aber auch die Zitrusfrucht kommt stärker heraus. Im Hintergrund leicht balsamisch, Salbei, Kamille. Tolle Länge! Der 18er ist frischer, duftet im ersten Anflug nach exotischen Früchten, dann kommen aber und zwar noch deutlich ausgeprägter als beim 19er die balsamischen Noten und Kräuter (die laut Daniela vom Boden kommen). Das ist fast mein Favorit, wobei abzuwarten bleibt, wie der 19er sich entwickelt. Der 18er ist die frische Leichtigkeit des Arneis gepaart mit einer saftigen Tiefe. Der 19er ist strukturierter als jeder andere Arneis, den wir in dem Urlaub hatten. Das wird wahrscheinlich ein ziemlicher Knaller, vor allem mit dieser unglaublichen Länge.
Die Favorita 2019 stammt wieder aus den drei oben genannten Weinbergen. Der Wein ist merklich frisch gefüllt, duftet noch jung nach Banane (die komme nicht von der Hefe, sondern tatsächlich aus der Traube, versichern die Schwestern), ist aber schon gut zugänglich, mit einer sehr schönen Säure. Das ist trotz aller exotischen Fruchtaromatik sehr frisch. Da ist eine schöne Balance aus Aroma und Frische entstanden und auch hier bin ich hoch gespannt auf die Entwicklung. Wie gesagt: Das ist die Aromatik eines Vermentino, aber deutlich weniger sättigend.
Wir kommen zum Rotwein. Der Barbera d'Alba 2019 wächst in Santa Vittoria, genauer in der Lage Coste Anforiano auf den für Rotwein prädestinierten Kalk-Lehmböden. Natürlich wird grün gelesen, um neben der Säure auch die Konzentration zu gewährleisten. Bei Tibaldi wird wenig mit Holz gearbeitet, Frische und Primärfrucht sind hochgehaltene Werte. Auch hier Ausbau sur Lie im Stahltank. Die Säure ist - so muss das bei Barbera sein - deutlich ausgeprägt. Der Wein kleidet den Gaumen mit seiner Säure und der schönen Kirschfrucht aus. Etwas Würze ist auf jeden Fall dabei. Gegen Ende auch Kaffee und Schokolade. Auch hier wirklich schön dieses Wettrennen von Aroma und Frische.
Der Langhe Nebbiolo 2018 kommt aus dem südlich ausgerichteten Teil von Bricco delle Passere. Auch hier nur Stahltank. Sehr expressiver Duft, Kirsche, Veilchen. Im Mund wahnsinnig weiches Tannin, richtig gute Struktur, schöne Länge. Die rote Frucht aus Kirsche und Cranberry ist betörend und hier haben wir wirklich extrem diese Kombination aus Kraft und Finesse, die ich bei Nebbiolo suche. Wenn man bedenkt, dass das ein "einfacher" Langhe Nebbiolo für unter 20 Euro ist... Vielleicht hat das nicht ganz das Lagerpotenzial von anderen, größeren Weinen der Rebsorte. Dafür kann man's halt auch jetzt schon sehr gut trinken und man spart einen Haufen Geld. Dieser Wein ist mein persönlicher Favorit in dieser relativ kleinen und starken Kollektion.
Wenn man bedenkt, dass die Tibaldi-Schwestern erst seit sechs Jahren hier am Werk sind, ist dieses Niveau ziemlich bemerkenswert. Da ist die Frage, was da noch kommen soll. Das sind ja keineswegs die gefragten, großen Lagen, auf denen die Reben wachsen, trotzdem entstehen hier Weine mit einer Tiefe und einem Trinkfluss, wie man sie - vor allem in der Kombination - im Piemont gar nicht mal so häufig findet.